"Teetied" - das ist Tea-Time auf ostfriesisch. Das bedeutsame  Ritual der ostfriesischen Tee-Zeremonie wird gerne etwa 4 mal am  Tag zelebriert, und wenn Besuch kommt, und zwischendurch.
Man legt den dicken weissen Kluntje-Kandis in die zarte  Porzellantasse. Dann wird der starke heisse dunkle Tee in die Tasse gegossen, so dass der Kluntje dabei knistert. Es gilt, diesem Knistern aufmerksam zu lauschen. Dann giesst man mit einem kleine Sahnelöffel  ("Rohmlepel") die Sahne in die Tasse, und zwar in einer bestimmten Art und Weise: Die Sahne wird kreisförmig am  inneren Tassenrand entlang in den Tee gegossen, und zwar unbedingt links herum,  GEGEN DEN  UHRZEIGERSINN. Warum?

Um die Zeit anzuhalten.

Damit zeigt man einander: Diese Zeit gehört ganz uns, die wir jetzt und hier beisammen sitzen. Nichts soll diese Runde jetzt stören. Und wenn ich allein meinen Tee trinke, gehört diese Zeit ganz mir. Der Tee-Zirkel und die Tee-Zeit ist geschützt wie durch einen Zauberkreis.

Zum Ritual gehört, dass man sich nun über seine Tasse beugt und genau zusieht, wie die Sahne im Tee in zauberhafte Wölkchen bildet, die immer wieder ihre Form fliessend psychedelisch verändern, langsam auf den Boden der Tasse sinken und wieder schwebend aufsteigen.

Jedes heilige Ritual hat auch seine Tabus. So ist es nicht erlaubt, den Tee mit dem Löffelchen umzurühren! Auch wenn er neben der Tasse liegt. Der Grund: Das Umrühren würde die geschichteten Geschmackslagen des Tees nivellieren und den Teegenuss damit verflachen. Wenn man den Tee un-gerührt trinkt, hat man ein vielfältiges Geschmackserlebnis, man kann differenzieren zwischen dem tee-bitteren und sahnig-samtigen Aroma und dann zum Schluss der süsse Geschmack das Kandis. Wie die Facetten des Leben. Um diese Nuancen zu schmecken, braucht es Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Moment, für die Sinne, die Wahrnehmung ganz im Hier und Jetzt.

Die Teetrinkenden befinden sich wie in einer geschützten Zeit-Blase. Es ist ein kleiner Alltagsmoment - der aber mit den grossen Momenten des Lebens Ähnlichkeit hat,  wo Zeit und Raum um einen herum verschwimmen, out of focus, weil man auf einmal etwas Wesentliches -  oder jemand Wesentlichen-  im Fokus wahrnimmt. 

Und um diese Zeitblase zu schützen, gibt es eine weitere Regel:  Wenn man zum Tee eingeladen wird, muss man mindestens 3 Tassen trinken, das ist "Ostfriesenrecht".  Dies steht jedem Gast zu. Und dies muss der Gast auch in Anspruch nehmen. Würde man sich vorher verabschieden, gar aus sogenannten Zeitgründen, wäre das ein Sakrileg,  denn man  würde damit zeigen, das einem diese angehaltene Zeit nicht heilig ist.

Wie heilig den Ostfriesinnen und Ostfriesen der Tee ist, zeigt auch die Redewendung: "Wenn we keen Tee hebben, mutten wi starben". So heilig wie der Tee ist ihnen nur noch eine weitere Sache: Ihre Freiheit. Denn auch hier sagen sie: "lever dod als slav", lieber tot als ein Sklave. Und so haben sie es in ihrer Geschichte erfolgreich geschafft, sich gegen jede Art der Leibeigenschaft und sonstiger Abhängigkeiten zu wehren.

Wenn den Ostfriesen sowohl Tee als auch Freiheit so heilig sind  - was ist dann das Verbindende zwischen Tee und Freiheit?
Zum einen ist Tee eine angenehme sanfte und unschädliche (sogar gesunde) und kostengünstige "Droge" für reich und arm, jung und alt. Tee verleiht  Wohlbefinden, und dabei einen klaren Kopf, Inspirations-Kick und  zugleich Seelenruhe, ohne Verlust von Selbstkontrolle, alles hilfreich für ein selbstbestimmtes Leben.

Aber nicht nur der Tee als Substanz fördert die Freiheit - sondern: Die damit verbundene Zeit. Das ist wie mit der Freiheit, über die Meret Oppenheim sagte: "Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie sich nehmen." Und genauso muss man sich auch die Zeit nehmen, und das tut man in Ostfriesland mit der Teetied - mit der Magie, die Zeit anzuhalten.

Dieser freiheitliche Umgang mit der eigenen Zeit war dann offensichtlich auch ein Grund, weshalb Friedrich II der Grosse den Teekonsum in Ostfriesland abschaffen wollte. 1778 schrieb der König von Preußen gegen das "Übermässige Tee- und Kaffeetrinken":

"Der Thee und Coffe führt das Privilegium auf einige Stunden des Tages müßig zu seyn mit sich, die tägliche zu verschiedenen Zeiten des  Tages erforderliche Zubereitung, vermehret den Zeitverlust, und mit diesem den Preis, welchen man vielleicht als nicht klingend außer Beachtung läßt.

Zeitverlust? Ja, vielleicht für die Obrigkeit! Die Teetrinkenden selbst gewinnen ja ihre Zeit...

Es überrascht nicht, dass der preußische König damit keinerlei Erfolg hatte bei den ostfriesischen Landständen. Die Mächtigen konnten nichts ausrichten gegen die Fähigkeiten der Ostfriesen und Ostfriesinnen, in der Teetasse die Zeit anzuhalten. Die Argumentaton des Königs von 1778 klingt seltsam aktuell, nur ist dies heute verpackt in Modeworte, im Appell an Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz und Kosten-Nutzen-Kalkulationen oder an "Selbstoptimierung" (zur Profitsteigerung). Doch all dies prallt ab an der Teetasse, denn mit dem Rohmlepel als Zauberstab  und der Zeitmagie gegen den  Uhrzeigersinn und wird das zarte dünnwandige Porzellan der Teetasse stark wie Panzerglas

Annerose De Cruyenaere


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Photo: ©Annerose De Cruyenaere

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