
Eine Story von Annerose De Cruyenaere
(Paris im März 1967)
Bei Sartre putze ich am liebsten.
Die Concierge im Eingangsflur des Hochhauses im Boulevard 222 Raspail nickt mir von ihrem Fensterchen zu. Das bedeutet: Sartre und Beauvoir haben das Zimmer verlassen. Wenn die beiden ihr Schreibpensum für den Tag erledigt haben, gehen sie ins Café de Flore und kommen erst spät in der Nacht wieder. Dann kann ich kommen und putzen, ohne das Paar mit meiner Existenz zu stören.
Ich fahre mit dem Fahrstuhl hoch in den 10. Stock. Ich schliess das Zimmer auf, es ist warm geheizt und wie immer, komplett verqualmt. Die braunen Stoff-Vorhänge sind immer noch zu und tauchen den Raum in mildes Licht, wie eine wohlige Höhle. Ich kann die Energie der beiden spüren, die wilden Gedanken der beiden Existentialisten wirbeln noch in diesem austeren Raum wie Goldpartikel eines universalen Bewusstseins und vermischen sich mit dem Zigarettenrauch bis sich die Inspirationswolken dann als feiner Staub auf den Boden und Möbel niederlassen. Ich finde es beinahe schade, diesen heiligen Staub immer wieder wegzuwischen.
Ich habe sie nie persönlich getroffen, ich habe sie nur manchmal im Café de Flore von Weitem gesehen, und natürlich in Zeitungsberichten über sie gelesen. Nun sitzen sie also im Café reden, trinken, rauchen, und reden noch mehr.... und wirbeln dort die Luft auf - während ihr Zimmer nun ruhig und erschöpft daliegt und sich erst einmal wieder erholen muss.
Seltsam, für Sartre und Beauvoir bin ich komplett unsichtbar, habe keine Existenz, sie sehen nur, was ich bewirkt habe, ein mit Sorgfalt gereinigtes Zimmer. Doch ob sie diese Sorgfalt überhaupt bemerken?
Ich atme die verbrauchte Luft tief ein, schliesse die Augen, als würde ich an einem der unbezahlbar teuren Parfums in den Galeries Lafayettes schnuppern… vielleicht sollte sich ein Parfumeur mal inspirieren lassen von dem Duft der dichten Philosophenluft: Die Kopfnote natürlich Tabak, Pfeife und Zigarette, rauchig, würzig. Dann als Basisnote der warme Duft von der Heizung und Öl. Die Herznote etwas leicht animalisches, denn Denken ist ja durchaus auch eine körperliche Tätigkeit, gemischt mit dem holzig moosigen Duft alter Buchseiten.
Ich hebe das Seidentuch von Madame De Beauvoir vom Boden auf, es ist eines dieser Tücher, das sie immer so kunstvoll und zugleich seltsam um ihren Kopf drapiert, ich halte es an meine Nase, es strömt den Duft ihrer Haare aus. Ich hänge das Tuch über ihre Stuhllehne. Da, ihr weisser kleiner Rollkragenpullover liegt auf dem Boden, ich hebe ihn auf und lege ihn sorgfältig neben das Tuch. Auf Beauvoir’s kleinem Schreibtisch in der Ecke, wie immer, ein voller Aschenbecher, den ich in den blechernen Asche-Eimer leere, den ich in meinem Korb dabei habe.
Die beiden sind seit 36 Jahren zusammen, habe ich gehört. Sie sind ein freies und zugleich intimes Paar. Sind das nicht alle französischen Paare?
Ich schiebe die Vorhänge beiseite und öffne die Fenster, frische Frühlingsluft mischt sich mit den Miasmen des Philosophenpaares. Die orangene Nachmittagssonne strahlt nun herein, es ist Ende März, die Sonne hat inzwischen Kraft, und die frische Luft zieht die philosophischen Rauchschwaden heraus, sie strömen aus dem Fenster in den offenen Himmel, hoch hinaus über die Gräber des Montparnasse Friedhofes. Aber das helle Sonnenlicht bringt auch an den Tag, dass die Balkonfenster es mal nötig hätten.
Auf seinem grossen Schreibtisch in der Mitte des Raumes kühlen noch einige Pfeifen aus, in einer hübschen Dose mit graphischem Muster. Ich nehme eine Pfeife nach der anderen in die Hand, spüre das warme Holz, da ist noch die Spucke von Sartre dran, die ich mit einem Papiertüchlein abwische. Die Spucke vom berühmtesten und kontroversesten Schriftsteller seiner Zeit. Sein Schreibtisch ist überhäuft mit handbeschriebenen Blättern und auf Schreibmaschine getippten Manuskripten, und Bücherstapeln.
Die Concierge prägte mir ein: “Monsieur Sartre bittet, seine Manuskripte beim Putzen nicht zu berühren! Und natürlich auch nicht die von Madame De Beauvoir!“ Ich wische nur einige Staubflusen und Tabak-Asche vom Rand des Tisches. Und schaue auf einige der Worte. Seine Handschrift kann ich kaum lesen, erkenne nur immer wieder den Namen Flaubert.
Sein Füller noch offen, das ist eine Angewohnheit von ihm. Ich muss lächeln. Ein winziger Tintenklecks unter der Fellfeder, ich wische ihn weg. Ich stecke die goldene Füllfeder vorsichtig zurück in die kleine Kappe. Das wäre wohl in seinem Interesse. Ich wage es niemals, die kleinen Bast-Papierkörbe unter seinem und ihrem Schreibtisch komplett auszuleeren. Darin sind immer viele zerrissene Blätter. Was ist, wenn er oder sie einen verworfenen Gedanken doch zurückhaben will? So was könnte Literaturgeschichte beeinflussen, Ich fische aus dem Papierkorb nur einige Apfelreste heraus und die leeren Zigarettenpackungen.
Ein Kandinsky Plakat an der Wand, nachlässig an die Wand gepinnt, es fällt beinahe herunter, ich fixiere es mit den kleinen Stecknadeln in der Rauhfasertapete.
Die grosse bunte Häkeldecke ist nur lose über sein Bett geworfen, ich schüttele sie noch mal aus und lege sie glatt über das Bett. Sartre’s Häkeldecke, aus bunten Vierrecken gehäkelt und zusammengenäht. So eine Decke habe ich auch, sie sind ja fast in jeder Studentenbude. Es ist das, was man noch von Maman mitnimmt ins neue wilde Leben. Wer ihm wohl diese Decke gehäkelt hat? Auch seine Mutter? Simone war es bestimmt nicht. Sie hasst Handarbeiten, wie sie in ihrem Buch "Das andere Geschlecht" schreibt, denn was kann frau alles für grosse weltverändernde Gedanken ändern, anstatt in vielen Stunden ein weitere Häkelquadrat in Topflappenoptik für die Decke zu produzieren! So unrecht hat sie wohl nicht. Immerhin hat sie selbst es geschafft, dass sie ihr Geld genau damit verdient, mit Denken, Schreiben, Reden… und nicht einmal selbst putzen muss. Weil ihre Zeit zu kostbar dafür wäre. Sie nimmt es ernst, was sie selbst denkt.
Ich schüttele zwischendurch die Staubtücher auf dem kleinen schmalen Balkon aus. Ein kurzer Blick über die Pariser Dächer, aus manchen der kleinen Schornsteine Rauch, sieht so hübsch aus im Sonnenlicht. Oh Paris, hier zu sein, hier zu studieren, ja, und auch hier zu putzen, und gerade hier… ich spüre eine plötzliche Freude in meinem Bauch, oh, LEBEN! SEIN! EXISTIEREN!
Von irgendwoher aus einem Fenster des Hochhauses ein Radio, dieser neue Song von diesen Beatles, „Michelle, ma belle, sont des mots qui von très bien ensemble“, ausgerechnet, mein Name, was für ein Zufall, aber ich denke, es gibt keine Zufälle, aber das Philosophenpaar würde mich wohl kindisch finden, dass ich an Fügungen glaube… was für ein Leben wäre es, wenn alles wirklich nur zufällig wäre, ohne Sinn darin… wenn wir wirklich einfach nur existieren, und im Grunde alles egal ist.. und wir uns selbst überlassen sind, was wir daraus machen.. aber, darüber kann ich nachher noch nachdenken, weiter an die Arbeit…
Ich fülle den Eimer mit warmem Wasser in dem kleinen Waschbecken im Zimmer, gebe etwas Essig dazu. Vor dem kleinen Spiegel ein schneeweisser Lidschatten von Simone, interessant! Vielleicht kaufe ich mir auch so einen... Ich putze das grosse Panorama-Fenster. Von innen ist das Glas viel dreckiger von dem Rauch, als von aussen von dem Pariser Staub. Ich möchte es richtig gut machen, die Philosophen sollen nicht durch Schlieren irritiert werden, wenn sie beim Schreiben sinnieren und in den Pariser Himmel schauen….
Die Arbeit ist getan. Es hat viel länger gedauert, als gedacht, aber das Ergebnis ist perfekt. Ob sie überhaupt merken, dass die Fenster geputzt sind? Wenn etwas perfekt ist, dann wird es manchmal unsichtbar, weil niemand sich daran stört.
Ich lege meine Schürze ab. Und jetzt kommt das Beste. Ich nehme mir etwas Zeit. Für Mein Ritual: Ich gehe wieder auf Sartre’s kleinen schmalen Balkon und rauche eine Zigarette. Ich habe mir die gleiche Marke gekauft wie Simone, hole es aus der meiner Rocktasche, mein Feuerzeug, Ich blicke in die Ferne, meine Rauschschwaden schweben über Paris hinweg. Vielleicht kommen mir auch grosse erhabene Gedanken, wenn ich hier rauche. Wie gerne würde ich wie Madame De Beauvoir den Mut haben, meine Gedanken wichtig zu finden! Auszusprechen! Aufzuschreiben!
Die Sonne scheint warm in mein Gesicht, die Dächer von Paris glitzern immer intensiver im Licht, ich bin für diesen Moment unendlich glücklich. Woran hatte ich vorhin noch mal gedacht, irgendwas mit Zufall, Schicksal, wenn ich das doch ausdrücken könnte in Worten… Die Sonne scheint warm in mein Gesicht. ich schliesse meine Augen....
ich höre etwas, die Tür geht auf, oh mon Dieu!!! Sartre eilt herein und setzt sich, noch im Mantel, gleich an seinen Schreibtisch, schreibt, ich räuspere mich, "Excuzes moi, Monsieur Sartre…" sage ich mit belegter Stimme… Er schaut auf, in meine Richtung, schaut wieder auf seinen Text, schreibt weiter… vielleicht hat er mich nicht einmal gesehen…
aber dann sagt er, ohne aufzuschauen, sein Blick gilt ganz seinem Füller und Papier… "Excusez moi, Mademoiselle, ich muss diesen Gedanken festhalten…"
"Bien Sur…" flüstere ich. Ich halte stille wie eine Statue, nur der Rauch meiner Zigarette hält nicht still, sondern strömt unbeeindruckt in den Himmel.
Sein Füllfederhalter gleitet über das Papier, nach einigen Sätzen setzt er mit schwungvoller Hand einen Punkt, legt den Füller beiseite, ohne ihn zuzuschrauben, typisch, und er schaut plötzlich ganz direkt zu mir auf: "Voila, und wer sind Sie, Mademoiselle?"
"Ihre Putzfrau… Entschuldigung, ich bin schon weg…"
"Nein, keine Eile, bleiben Sie noch… wie ist ihr Name?"
„Michelle…“
Er kommt zu mir auf den Balkon. Er sieht die Zigarettenpackung in meiner Hand.
"Haben Sie auch eine Zigarette für mich, Michelle?“ "Ja, bien sur…"
"Die gleiche Sorte raucht Simone auch…"
Ich gebe dem Philosophen Feuer.
Er lehnt sich über die Ballustrade und schaut in die Weite. Da die Terrasse so schmal ist, stehen wir nah beieinander. Er ist kleiner als ich. Er zeigt mit einem Finger in die Ferne:
"Dort, in jenem Haus, lebt meine Mutter!”
Ich muss an die Häkeldecke denken… ob seine Mutter die gehäkelt hat?
Sartre beugt sich gefährlich weit über das niedrige Balkongeländer, ein Existenialist kennt da nichts. Und er zeigt in eine andere Richtung: “Und da lebt Castor!"
Er meint Simone.
"La!" “Und dort.. Arlette!”
Arlette... Ja, von der habe ich gehört… seine junge Geliebte, die er adoptiert hat, vielleicht hat sie ihm die Decke gehäkelt… oh, warum muss ich an diese verdammte Häkeldecke denken, ich stehe nebem dem bedeutsamsten Philosophen dieser Zeit, im März 1967, werde nie wieder noch einmal neben Sartre stehen, und woran denke ich? An seine Häkeldecke! Ich muss irgendwas sagen…
"Ihre Lieben leben also alle hier in Montparnasse!"
"Ja, lange Zeit lebte ich in St. Germain-de-Prés, bis die Explosion mich dazu zwang, mich zu relokalisieren. Sie sind gefolgt."
Natürlich sind die drei Frauen gefolgt, denke ich. Mutter, Gefährtin, Geliebte. Schliesslich ist Sartre der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit. Und ein Mann. Aber ich sage das nicht. Ein Gedanke kommt mit in den Kopf. Und wenn nun Mutter, Lebensgefährtin und Geliebte zu dritt einträchtig die Patchwork-Vierecke für die Häkeldecke gehäkelt haben? Ich scheuche diesen Gedanken ganz schnell wieder weg….
Wir schauen beide auf den Friedhof. In der Ferne eine schwarz gekleidete Beerdigungsgesellschaft.
“Sie leben direkt am Montparnasse Friedhof. Ist das nicht etwas düster?”
"Nein, überhaupt nicht. Ich habe Friedhöfe immer geliebt!"
Was anderes würde man auch erwarten vom Begründer des Existentialismus... ich ärgere mich über mich, fällt mir wirklich keine bessere Frage ein... ein blitzgescheiter Dialog... Ich blicke auf Sartres Ohr, als könnte es mir sagen, was es hören wollte.
"Dies ist das zehnte Stockwerk! Mögen sie die Höhe?"
"Ja, ich liebe es, hoch oben zu leben".
Auch dies hätte ich nicht anders von einem Existentialisten erwartet.
Er blickt immer noch in die Weite und sagt: "Woran denken Sie gerade, Mademoiselle? Ich meine, ungefiltert, eine ehrliche Antwort, ohne Angst!“
"Eh.. Oui… es ist schwer, es zu greifen, was ich im Moment gerade denke … mein Denken kommt mir vor wie dieser Rauch in der Frühlingsluft… die Gedanken verschwinden, lösen sich auf… wie gerne würde ich sie einfangen, erzählen können..."
Er dreht sich auf einmal ganz zu mir um und schaut mich intensiv an, durch seine runde dicke schwarze Brille, mit seinem guten Auge. Sein anderes Auge blickt immer noch irgendwie eher in Richtung auf den Friedhof Montparnasse.
"Sie können ihre Gedanken einfangen, in dem Dunst wird etwas Konkretes sein, es ist immer etwas Konkretes in unseren Gedanken, und es kommt, wenn wir aufhören, gleich zu werten… woran denken Sie also?“
Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich an sein Auge denke, mon Dieu, was sag ich nur, was sag ich nur… Ah Oui, "Ich denke an Ihre Häkeldecke auf Ihrem Sofa"
Er lacht, herzhaft. "Bien! Und was denken Sie darüber?
"Nun, wer sie gehäkelt hat!"
"Ich weiss es nicht!
„Madame Beauvoir war es sicher nicht?“
"Allein die Vorstellung ist surreal, Castor, mit Handarbeit auf dem Schoss..."
"Ja, ich habe gelesen, was sie darüber schrieb..."
"Ah, Oui... Sie lesen gerne?"
"Ja... und ich schreibe gerne...."
"Schreiben Sie über diese Häkeldecke, Mademoiselle! Finden sie Ihre Perspektive, dann können Sie über alles schreiben, wie auch immer, literarisch, marxistisch, soziologisch, existentialistisch…
„Oder feministisch?"
Er lacht wieder, "Oui, exactement!"
Unsere Zigaretten sind zu Ende geraucht.
„Ich muss sofort wieder zurück ins Flore gehen, Michelle, danke für die Zigarette, es war reizend, Sie kennenzulernen, au revoir… " Er eilt hinaus, den Mantel hatte er ja sowieso noch an, die Tür klappt, weg ist er…
Ich bleibe einfach auf dem Balkon sitzen, die Sonne in meinem Gesicht macht mich so müde… Sartre und ich habe miteinander gesprochen, incroyable! Wie ein Traum.... ich wache auf, als die Sonne beginnt, mir heiss im Gesicht zu brennen … ach, ich muss nun wirklich los…
Ich gehe zurück in das Zimmer ... … oh, er hat wieder die Kappe von seinem Füller offen gelassen, ich muss lächeln, und schliesse sie behutsam… Ich schwebe im Fahrstuhl hinunter, fühle mich so inspiriert zum Schreiben, möchte gleich loslegen… ich eile vorbei am Fensterchen der Concierge, möchte nicht aufgehalten werden, ich laufe los, in den Frühlingstag hinein. Ich setze mich in das nächstbeste Café und schreibe diese Geschichte sofort in mein Notizbuch.
Annerose De Cruyenaere