Er hatte immer ein Zwinkern in den Augen und immer eine Pfeife.
Pat lächelt dem Foto auf dem Kaminsims zu. Ihr Mann James,
Professor für Wirtschaft in Cambridge. Es zeigt ihn so, wie sie ihn
am liebsten erinnert, in seinen besten Jahren. Das abendliche
Kaminfeuer ist beinahe heruntergebrannt und knistert leise. Sie
schenkt sich noch einmal Tee ein. 60 Jahre waren sie verheiratet.
Hier in diesem Haus hat sie ihn bis zu seinem Tod gepflegt.
“Viele Leute halten mich für fragil. Sie sind oft entzückend
hilfsbereit. Aber sie trauen mir nicht viel zu. Sie denken nur: Ach,
old Granny….”
In der Tat, sie wirkt zerbrechlich, so schmal und zart gebaut. Ihr
Rücken ist verkrümmt, ihr Hals gebeugt, ihr Kopf nach unten
gezwungen. Doch immer wieder hebt sie mühsam ihren Kopf und
schaut ihrem Gegenüber direkt in die Augen. Sie muss den Kopf
dabei schräg nach oben biegen.
Wenn sie auf dem Fahrrad durch Cambridge radelt, fällt ihr
krummer Rücken weniger auf. Ihre Kinder sind besorgt, dass sie
mit ihren 90 Jahren immer noch mit dem Rad fährt. “Aber auf dem
Rad fühle ich mich sicherer als zu Fuss!” Beim Gehen braucht sie
ihren Stock und trippelt in kleinen Schritten. Passanten in
Cambridge fragen sie sogar manchmal, wo ihre Begleitperson sei.
Im Flur steht ihr Rollkoffer, bereit für ihre Reise. Zur Insel Iona, weit
oben in den schottischen Highlands. Sie will allein reisen. Ein
Lebenstraum, eine Pilgerreise zur heiligen Insel. Sie hatte damals
für ihren Mann einen Treppenlift einbauen lassen zu den oberen
Zimmern. Sie stellt ihr Tablett mit dem Teegeschirr auf den
Liftsessel. Das Geschirr fährt ihr voraus, sie selbst steigt langsam
die Treppe zu Fuss hinauf. Mit einer Hand umklammert sie fest das
Geländer.
Sie schaut noch einmal in sein Arbeitszimmer. Sie hatte
es damals so gelassen, wie es war. Sie blättert in dem Buch, durch
das er sich einen Namen gemacht hat. Im Bett trinkt sie noch eine
Tasse Tee und stellt den Wecker auf 5 Uhr.
Das Taxi steht in der Morgendämmerung pünktlich vor dem Haus.
Am Bahnsteig erwartet sie schon ein hilfsbereiter Zugbegleiter. Sie
hatte in vielen Telefonaten alles organisiert. Auf den Bahnsteigen in
Edinburgh und Glasgow empfängt sie jedes mal ein junger
Gentleman von British Rail und nimmt ihren Koffer und ihre kleine
Hand.
Der Zug fährt in die Hafenstadt Oban ein, das Meer glüht Orange im
Sonnenuntergang. Mit dem Taxi zum Hotel. Sie ruft ihre Kinder an:
“Es hat bisher alles gut geklappt”. Am nächsten Morgen hat sie
noch Zeit in Oban. Sie besichtigt die Whisky-Destillerie am Hafen,
erklimmt die schmalen Treppen zu den riesigen runden Containern,
in der blubbernde Gerstenkorn-Masse automatisch gerührt wird.
“Das sieht aus wie mein Frühstücks-Porridge, und riecht genauso!”
Das fertige Erzeugnis glänzt golden in den Gläsern, sie nippt mit
kleinen Schlückchen.
Überfahrt auf der Caledonia-Fähre, weiter mit dem Bus über die
Insel Mull, schliesslich mit einer kleinen Fähre hinüber zur Insel
Iona. Sie steht auf dem Schiffsdeck in der Abendsonne, ihre Hand
auf den goldenen Knauf ihres Gehstocks gestützt, ihr rotes
Kopftuch mit den weissen Punkten flattert im Wind.
Sie blickt auf die Abtei am Horizont. Pat ist die älteste
Teilnehmerin der Tagung über “keltische Spiritualität”. Immer
wieder hört man in der Gruppe ihr helles Lachen heraus. Der
schottische Sturmwind versucht die zierliche Lady durch die Lüfte
zu heben, doch sie trotzt mit unbeirrten kleinen Schritten. Sie lässt
keine Aktivität des Programms aus. Mit dem Fischerboot schaukelt
sie durch die hohen Wellen auf die Insel Staffa, um die seltenen
Papageientaucher brüten zu sehen. Beim Céilidh, dem
schottischen Volkstanzfest, sitzt sie am Rand auf der Holzbank
und lacht über die unbeholfenen Hüpfsprünge und spektakularen
Stürze und wirft im Sitzen ihre Beine hoch: “Oh dear!”
Mit dem kleinen Senioren-Scooter des Klosters erkundet sie die
Insel. Sie rollt an den Spaziergängern vorbei, winkt fröhlich und
verschwindet am Horizont. Das Foto von James hat sie
mitgenommen. Es steht auf dem Nachttischchen in ihrem kleinen
Klosterzimmer. Sie zwinkert ihm zu, bevor sie das Licht ausmacht.
Annerose DeCruyenaere